Rezensionen // Seite 2

Ein Urknall deutscher Rockmusik

Vorbemerkung: Als Urknall wird in der Kosmologie der Beginn des Universums, also der Anfangspunkt der Entstehung von Materie, Raum und Zeit bezeichnet. (Wikipedia) Ok, das ist vielleicht ein kleines bisschen übertrieben in diesem Zusammenhang, aber manche verstehen  sicher, was ich meine.

Es gibt Künstler, die ich früher schonmal gehört habe und toll fand, aber mit der Zeit verblasst das Bild, auch weil das Werk nicht mehr aktuell erscheint. Dann entdeckt man zufällig mal ein Video, hört sich die Musik nochmal an, entdeckt ein noch tolleres Video und ist so hingerissen, das man möglichst alles konsumieren möchte, was es dazu gibt. Das passierte mir in diesem Fall.

Ich weiß, es ist schon sehr lange her und es wurde schon alles dazu geschrieben und keiner will mehr irgendetwas dazu lesen, dennoch kann man dieses Weibsbild nicht genug würdigen und ich möchte auch einfach mal meinen Senf dazu geben:

Nina heißt eigentlich Catharina und ist – wie alle schon längst wissen – eine Ostberliner Pflanze, der es in der DDR zu eng wurde. Die Tochter der Schauspielerin Eva-Maria Hagen, und als „Ziehvater“ wird Wolf Biermann genannt. Beides Größen ostdeutscher Kulturgeschichte. Der leibliche Vater Hans Oliva Hagen wird selten erwähnt. Sie machte rüber (oder wurde rübergemacht?) und ging kurz nach Hamburg und knüpfte wohl einen ersten Kontakt mit der Band einer anderen Koryphäe deutscher Popmusik: Udo Lindenberg. Diese lehnten eine Zusammenarbeit ab: „Zu viel Chaos“, obwohl sie sich selbst „Das Panikorchester“ nannten ;) Also Flucht nach England – in der Hochzeit des Punk und der damals wildesten Musikszene der Welt, suchte sie eine Gruppe, mit der sie Musik machen könnte.

Die Ansprüche waren hoch und wurden nicht erfüllt, so ging sie wieder zurück nach Berlin, und fand in der links-alternativen, gewerkschaftsnahen, bis dato wohl wenig erfolgreichen, in Geldnot lebenden Politrock-Gruppe mit dem wunderbar altmodischen Namen „Lokomotive Kreuzberg“ den – wie sich nachher herausstellte – idealen Partner. Daraus entstand die „Nina Hagen Band“. Mehr möchte ich zur Geschichte nicht erzählen, die ist einzigartig und umwerfend und wechselhaft. Ich würde niemals den Auftrag annehmen, eine Biographie über diese Furie zu schreiben, da müsste man jahrelang recherchieren und hätte trotz immensen Arbeitsaufwands doch nicht alle Fakten dieses unglaublich vielseitigen Lebens zusammen. Aber interessant wäre es schon!

Egal: mir geht es vor allem um diese erste Schallplatte mit dem schlichten Namen „Nina Hagen Band“ (1978). Es ist – objektiv gesehen – eines des wichtigsten Alben, der (deutsch-)deutschen Musikgeschichte. Es war unglaublich beliebt, aber dennoch denke ich, dass es bisher nicht ausreichend als historisch gewürdigt wurde.

Die ikonische Hülle zur Platte mit der maßgeblich verantwortlichen Protagonistin eines deutschen Rock-Urknalls, genial in schwarz-weiß abgelichtet durch einen recht bekannten Lichtbildner mit dem wunderbaren Namen Rakete – der sich auch professionell um die Band gekümmert hat – und schön, aber etwas kitschig nachkoloriert durch ihn, oder den Plattengestalter Herr Meinaß.

Ich dachte immer, nur die Engländer können in der Popmusik so wunderbar selbstironisch sein, und sich auf geniale Art und Weise aus Versatzstücken der Popwelt bedienen. Frau Hagen junior kommt daher und treibt das Ganze in nie dagewesener Art auf den Höhepunkt – und darüber hinaus. Die Geschlechtsverkehrspistolen waren brave Jungs dagegen – und vor allem nicht so echt.

Dies ist natürlich kein Punk! Aber ja, Nina selbst ist ein waschechter Punk, oder?  („Ich war immer Hippie gewesen, und wusste eigentlich gar nicht, dass ich Punk war“). Nein, sie ist beides! Rotzgöre und Herz (unverschämt, frech, ungehörig, respektlos, unbekümmert, provozierend, herausfordernd, humorvoll, charmant, liebevoll, sozial, empathisch). Nur, die Musik, die sie hier macht, ist eindeutig die Richtung siebzigerjahre Funkjazzrockdiscoreggaepunk, beeinflusst durch ältere und aktuelle Strömungen in der Popmusik, auch etwas Progrock, aber kein Krautrock. Das Besondere ist natürlich die umwerfende Opernstimme, ausgebildet am „Zentralen Studio für Unterhaltungskunst“ der DDR, als staatlich geprüfte Schlagersängerin, die auch Rockröhre, Geschrei, Kreischen, Jammern, Jodeln und alles andere kann. Ein Hoch auf diese Institution! Und sie ist leicht extrovertiert, mit einem gewissen Hang zur Selbstdarstellung,  und  übertreibt es ständig vollkommen  hemmungslos, und nervt damit natürlich auch. Egal! Der Punk ist damals prägend und die Hagen hat sich wohl irgendwann gedacht: „das kann ich auch“ und ein entsprechendes und perfektes Stück mit dem passenden Namen „Pank“ aufgeführt; damit war das Thema aber auch abgehakt. Sie ist da vielseitiger und wollte mehr.

Frau Hagen hat sich auch um den Spaß an der deutschen Sprache und deren Verbreitung verdient gemacht, die sie anfangs sehr selbstbewusst und kindlich-genial-originell-einzigartig-ostdeutsch in ihren Liedtexten einsetze (alle Texte, besser: lyrics) stammen von ihr; dazu muss ich wohl mal einen gesonderten Artikel schreiben!). Und das ziemlich unmanierlich, anstößig, unanständig, radikal, unflätig (= „so, dass es nicht den üblichen Regeln des guten Benehmens oder Anstandes entspricht“). Wir haben die Platte auch in den Achtzigern noch rauf- und runtergehört, konnten die Texte in- und auswendig. Und ich habe als junger Mann – wie alle damals – voller Inbrunst feministische Parolen und schräge Anspielungen in der Disco getanzt und mitgegrölt. Es gibt viele geniale Textschnipsel, die sich langfristig in unser Hirn eingenistet haben. Ein paar Beispiele:

Ich küsste Dich, Du küsstest mich, wiiir – küssten uuuns! (Eine musikalisch wunderbar dramatische Steigerung. Konjugieren kann sie auch! Und benutzt dabei das wunderbare Präteritum, das heutzutage etwas vernachlässigt wird. Und: Pfui, sie treibt es mit einer Frau!)

Dann lagen wir auf der Veranda, übereinander. (dieser Reim ist einzigartig in der deutschen Popwelt)

Marlene, hatte and’re Pläne (unglaublicher Reim)
Simone de Beauvoir sagt: „Gott bewahr‘!“ (unglaublicher Reim)
Und vor dem ersten Kinderschrei’n
Muss ich mich erst mal selbst befrei’n. (starke Stellungnahme)

In meiner Tasche klebt ’n Bonbon. (entsprechend süß gesungen und ist mir irgendwie hängen geblieben.)

Allein! Die Welt hat mich vergessen. (glaubt man nicht, passt aber zum Lied)

Ich glotz von Ost nach West. Ich kann mich gar nicht entscheiden – ist alles so schön bunt hier. (eine viel zitierte Anspielung)

Ich schenk‘ dir keine Kinder zum Zeitvertreib
Leg mir lieber Puder Kamm und Lippenstift bereit (eine humorvolle Form des Feminismus)

Ich wusste nichts von Deinen Ufern! (Was bedeutet das? Eine Anspielung für Eingeweihte?)

Off’nes Fenster präsenti-iert
Spatzenwolken, Himmelflattern (poetisch!)
Wind bläst, meine Nase friert
Und paar Auspuffrohre knattern (sie meint die Trabbis!)
A-aah.

Und hier der Anlass für diese Würdigung

 

Die Platte ist schon toll. Aber die Konzertauftritte erst! Ich bin zufällig auf ein Video („Naturträne“) eines Konzerts der legendären Reihe „Rockpalast“ gestoßen, die unbedingt sehenswert ist. Dieser Auftritt sollte nochmal ausführlicher betrachtet werden. Er hat mich dazu dazu gezwungen, diese Rezension zu schreiben. Die Musik wird durch eine unglaublich theatralische Mimik unterstützt. Sie kann auch wirklich tolle Grimassen schneiden! Ich habe Euch mal ein paar zusammengestellt:

Phänomenale Rotzgöre in Aktion, während eines grandiosen Konzertes im Rahmen der legendären Reihe „Rockpalast“ des WDR (1978).

Man kann diese Scheibe nicht verherrlichen, ohne die Musiker zu würdigen, die die Musik auch im Wesentlichen  komponiert haben, bis auf TV-Glotzer, eine Interpretation von White Punks on Dope, sowie Naturträne und Fisch im Wasser, die Nina eingebracht hat.  Der Gitarrist (Bernhard Potschka), als klassischer Macho-Gitarrist, aber mit Kajal-Augen. Er sieht aus und verhält sich so, als ob er eigentlich viel lieber in einer Heavy Metal Band spielen würde, ist aber vielseitig und spielt nicht nur unglaublich gut und unglaublich lässig, sondern hat auch einen Sinn für unglaublich gute Gitarrensounds. Er hat Riffs produziert, die mir in Herz und Blut übergegangen sind.  Und der Bassist (Manfred Praeker, leider †) auch mit wunderbarem Spiel, mit Aussehen und Sex-Appeal eines Mick Jagger. Mit großer Freude am Spiel, das ist sympathisch.  Und er spielt später auch mal einen Bass ohne Bünde, das muss man können! Der Tasteninstrumentenspezialist (Reinhold Heil) sah schräg, geradezu spießig  aus und hat wunderbar ursprüngliche Synthie-Sounds drauf gehabt und auch nachher noch eine ansehnliche Karriere hingelegt. Der Schlagzeuger (Herwig Mitteregger), auch mit tollem Spiel, achtet mal darauf,  ein Ösi, der auch später noch einiges von sich gegeben hat. Zusammengefasst: alles Individuen und Selbstdarsteller, die sehr professionell ihre Instrumente spielten und das auch sehr gut gemeinsam konnten.

Für diese historische Schallplatte kam alles gewollt und zufällig auf eine historisch und einzigartig geniale Art und Weise zusammen: die Sängerin mit der unglaublichen Stimme und Attitüde, deren irre Ost-West-Geschichte, die Punkzeit als wildeste Zeit der gesamten Popmusikgeschichte, die Gruppe mit Musikern, die zum Besten zählten. Ein Gesamtkunstwerk. Alleine über diese Scheibe könnte man ein Buch schreiben.

Leider war Madamechen etwas wechselhaft und wollte unbedingt Neues erkunden, wo ihr doch auf einmal  die ganze Welt offen stand. Die zweite Platte wurde aus vertraglichen Verpflichtungen noch aufgenommen (Musik und Gesang, nacheinander, getrennt!), aber dann war sie weg. Den genauen Grund konnte ich nicht recherchieren, ein Zerwürfnis wird genannt, Unberechenbarkeit und egozentrische Starallüren, Angst vor dem Erfolg, der unbändige Freiheitswillen der Sängerin; würde mich bei Gelegenheit sehr interessieren. (Nachtrag)   Die Rest-Gruppe war danach unter dem Namen „Spliff“ weiterhin sehr erfolgreich und supergut (wäre auch noch Artikelwürdig), bei Frau Hagen ging es auf und ab. Sie kehrte aber auch gerne nach Berlin zurück und engagierte sich auch politisch. Eine bodenständige Weltbürgerin. Schade um die Trennung [Seufz]. Ehrlich gesagt, ärgert es mich total! Sie hat später mit verschiedenen Musikern zusammengearbeitet, bei denen ich aber selten dieses gemeinsame Bandgefühl wiederfinden konnte. Vielleicht wollte sie sich selber mehr in den Mittelpunkt stellen.  Aber ich verstehe ihren absoluten Willen und sie hat es durchgezogen und sie ist sich treu geblieben (bis auf ein paar Kleinigkeiten: Kinder kriegen, mit einem Mann zusammen sein, englisch singen, vertiefter christlicher Glaube). Eine hochinteressante Persönlichkeit. Und superhübsch. Mit einem Superpunkoutfit.  „ICH HABE MICH IN DICH VERKNALLT!“

Der Kollege Sprachbloggeur

Auf der Suche im Netz nach Gleichgesinnten bin ich schon vor längerem auf diese Seite gestoßen und hatte bereits einen Kurzkommentar dazu veröffentlicht, möchte aber nun nach persönlicher Kontaktaufnahme, freundlichem Austausch und intensiverer Beschäftigung damit gerne eine etwas ausführlichere Würdigung schreiben!

Der Sprachbloggeur ist offensichtlich ein ER, sonst würde sie sich Sprachbloggeuse nennen. Ich bin nicht sicher, ob das Doppel-g im Namen korrekt ist, das wird er aber wohl geprüft haben. Der Name ist aber einzigartig und deutet schon auf den Sinn für Sprachen hin. Dahinter steckt wohl ein Ami, der in München gestrandet ist und sich als Sprachinteressierter zunächst ausgerechnet mit dem Bayerischen auseinandersetzen musste, letztlich und glücklicherweise aber beim Hochdeutschen gelandet ist. Der Sinn für sprachliche Feinheiten gefällt mir, den habe ich auch. Während ich mich etwas mehr auf die deutsche Sprache fixiert habe, ist er da vielseitiger und ausführlicher. Ich frage mich, ob der Aufenthalt im Ausland (bei mir 10 Jahre Irland) oder die Herkunft (bei ihm USA) den Sinn für sprachliche Feinheiten fördert – ich denke ja!

Während ich weitgehend anonym auftrete, erzählt er schonmal etwas über sich, woraus man sich ein ungefähres Bild machen kann. Der Menüpunkt „Wer bin ich“ hilft aber nicht weiter. Stellvertretend wird etwas Lyrik präsentiert. Auch der genaue Name erschließt sich mir nicht: was bedeuten die Initialien P.J.? Das wird nie erwähnt. Ich kenne das als Polly Jean bei meiner Lieblingsmusikerin P.J. Harvey.

Auch das Alter das Autors ist nicht ersichtlich – ich schätze aber aufgrund der Sprache und des Stils auf ein reiferes und weiseres Alter, meine Generation? Viele aktuelle Themen haben wir gemeinsam, wenn auch anderes ausgeführt.

Die Seite ist leider optisch nicht sehr ansprechend; hier sollte mal nachgebessert werden. Andererseits ist das natürlich nur aüsserlich – wichtig sind die Inhalte!

Ich habe noch nicht alles gelesen aber der ausgeprägte Sinn für sprachliche Feinheiten und das Rechercheinteresse sowie die unkonventionellen Beobachtungen und Stellungnahmen zum Zeitgeschehen gefallen mir. Und er ist bisher beliebter, als ich: es scheint einige Leser zu geben, die auch Kommentare hinterlassen. Guckt mal rein unter http://sprachbloggeur.de/

Schön, dass es so etwas (noch) gibt – und das außerhalb der schrecklichen „sozialen Medien“ – bitte durchhalten!

Kleiner Nachtrag: Puh, bin gerade – nach Fertigstellung dieser kleinen Rezension – das erste Mal auf die Idee gekommen, den Namen mal zu gugeln, und Monsieur scheint ein Profi und längst bekannt zu sein und hat schon mehrere Veröffentlichungen hinter sich! Das wusste ich nicht und ich möchte es eigentlich gar nicht wissen und lese darüber auch erstmal gar nichts. Ich möchte einfach unvoreingenommen über eine Seite schreiben, die mir gefallen hat.

SPON ist tot

Spiegel Online war mal Pflicht. Ich rief die Seite mehrmals am Tag auf. So wie sehr viele andere – es ist (bisher)  die am meisten genutzte Seite in Deutschland. Genau am 6. Januar 2020 morgens passierte dann dies: Die Seite sah komisch aus. Ich dachte, ein Cacheproblem. Browser falsch eingestellt. Falsche URL aufgerufen. „Haben Sie sich vertippt?“ Nein. Die haben, ohne mich zu fragen, die Gestaltung und Struktur der Seite verändert, „verbessert“, „Mehr Überblick und Klarheit“ geschaffen. Das finde ich nicht. Ich war schockiert.

Das bisherige Forum – eine historische Quelle im demokratischen Diskurs – wurde abgeschafft, die Kommentare gelöscht! Kann man sich vorstellen, dass ein Unternehmen, viele Jahre an Beiträgen der geschätzten (oder offensichtlich nicht geschätzten) Anhängerschaft einfach vernichtet? Eine schlimme Mißachtung der politischen Kultur. Technisch nicht notwendig oder erklärbar! Man kann zwar jetzt Artikel noch kommentieren, das wird aber in einen Nebenbereich verbannt, der sich über die jeweilige Seite legt. Der Bezug zum Artikel und die Wertschätzung gehen verloren. Und ganz toll: Man kann jetzt liken, disliken und sogar lieben! Wir sind ja so modern und zeitgemäß!

Auch das ist schonmal passiert, hier am 05.12.19. Mittlerweile wäre das nicht mehr schlimm.

In dem Zusammenhang wurde dann auch mal kurz das Unternehmen Spiegel Online aufgelöst, integriert, assimiliert, degradiert. Es gibt nur noch den Spiegel. Ich kann verstehen, dass es nervt, wenn unter einem Dach noch andere etwas machen und neue Ideen entwickeln. Aber, dass das klassische und etwas altbackene Printmedium als federführend gesetzt wird, der Stil und die Gestaltung in das Online-Medium übernommen wird, wundert mich sehr. Bisher war es immer umgekehrt. Zumindest, wenn man erfolgreich sein möchte.

Und nun zur Gestaltung: Am Rechner gibt es nur noch einen kleinen Streifen Text am linken Rand des Monitors. Große Bilder, wenig Text. Beim Aufruf der Seite kann man gerade noch eine Schlagzeile lesen. Es gibt seit vielen Jahren im Webdesign eine populistische Bewegung, die „mobile first“ propagiert. D.h. Netzseiten sollen sich zuerst an Mobilnutzer anpassen (und aufgrund des Platzmangels entsprechend weniger Informationen bereitstellen). Das haben die hier konsequent und rücksichtslos umgesetzt. Zum Nachteil der Nutzer, die tagsüber im Büro am PC sitzen und zwischendurch mal reingucken.

Nachdem ich die letzten Jahre schon einen unangenehmen Trend zum Boulevard entdeckte, muss ich nun feststellen, dass die Seite nur noch zeitgemäße Unterhaltungs-Häppchen, Ratgeber in der Bezahlversion, wenig Text und viele große Bilder bietet. Um Nachrichten zu lesen, gehe ich dann lieber woanders hin. Ich hoffe, dass sich das nicht durchsetzt.

Es gibt noch viel zu sagen und zu kritisieren, das kann man auch noch fundierter machen. Habe aber keine Lust dazu, da es dann aufwendig wird. Falls es jemand bezahlen möchte – gerne ausführlicher.

Nachtrag vom 12.02.20: Jetzt haben die wohl eine neue Funktion eingerichtet, die es verhindert, dass ich die Seite aufrufen kann. Obwohl ich die gewünschten Cookies zulasse, funktioniert nichts mehr. Tschau Spiegel.

Spiegel mag mich nicht mehr. Ich ihn auch nicht.

Nachtrag: Drei Tage später ging es dann doch wieder. Ein technisches Problem beim Spiegel wurde wohl behoben. Genutzt hat es aber nichts.

Pötzlich arm, plötzlich reich

Neulich bin ich im Unterschichtenfernsehen auf etwas gestoßen, das mich mitgenommen hat. Ein „Tauschexperiment“.

Es tauscht eine reiche Familie oder eine sonstige Konstellation mit einer armen. Die müssen dann für eine Woche jeweils mit allen Rahmenbedingungen der Tauschpartner klarkommen. Riesen Villa/kleine Wohnung, viel Geld/wenig Geld, Geld verprassen/haushalten, spezifische Aufgaben erledigen und so weiter.

Mein Einstieg in die „Staffel“ (normalerweise muss ich kotzen, wenn ich dieses Wort höre/schreibe) war eine Sendung, in der ein reiches schwules Pärchen aus extravaganter Wohnumgebung (Wasserturm) mit einer armen klassischen Familie in schrumpeliger Wohnung tauscht. Ich war unsicher, ob das gut geht. Was sagt die Familie, wenn die merken, dass sie bei schwulen wohnen, und dann noch in einer extrem ungewöhnlichen Behausung ? Was sagen die Homosexuellen, wenn sie mit Heteros konfrontiert werden? Das war aber überhaupt kein Thema.

Es gab Tränen, als das Budget für die Woche übergeben wurde. 2.000 € anstatt irgendwie 180,00 €. Der Mann hat sich erstmal ein ordentliches Steak geleistet und war glücklich. Aber auch die reichen sind gerührt von dem armseligen Kinderzimmer des armen und beschließen, einen großen Teil ihres knappen Budgets für einen vernünftigen gebrauchten Schreibtisch auszugeben.

Die Idee der Sendung finde ich gut, aber das ganze lebt natürlich auch von den beteiligten Persönlichkeiten. Und das macht die Produktionsfirma bei der Auswahl gut. Egal ob arm oder reich – die Beteiligten sind meistens sympathisch, liebevoll und tragen damit zum Gelingen der Sendung bei. Natürlich wird alles gesteuert, inszeniert, nachbearbeitet, verdichtet und ist sehr Klischeemäßig. Aber die Menschen sind echt und die Gefühle wohl auch. Die gehen mir jedenfalls unter die Haut. Und das ist gutes Fernsehen.

Fazit: Macht Geld glücklich? Nein, aber es hilft ungemein!

Igorrr der Große

Oder: Igorrr, der schreckliche. Achtung: Dies ist keine Musik! Nur wer mal dringend eine ordentliche und nachhaltige Gehirnwäsche braucht, sollte sich dies antun – man ist danach ein anderer Mensch. Ich habe früher aus diesem Grund mal Punk gehört, das ist aber viel zu brav im Vergleich. Und Igorr kann auch anders.

Der Kerl kommt aus Frankreich und heißt Gautier Serre. Er ist kein Musiker, sondern Künstler, der Musik neu erfindet und das gut macht. Man muss aber schon sehr vielseitig sein, um sich das anhören zu wollen: Barock, Breakcore und Death Metal. Leider auch etwas Balkan, was ich nicht ausstehen kann, hier aber manchmal erträglich ist. Das sind die wesentlichen Merkmale, es gibt noch viel mehr. Ja, und sehr pathetisch und auch, teilweise schwer auf Effekthascherei orientiert, und nervig – aber gut! Die Mitstreiter sind Laure Le Prunenec mit dem wunderbaren – unter anderem –  Opern-Gesang und Laurent Lunoir, der den Death-Metal-Aspekt überzeugend vertritt. Gesungen wird in einer Sprache, die ich nicht verstehe, Russisch vielleicht?

Dieses Bild entspricht nicht ganz dem Stil seiner Musik, aber seinem künstlerischem Verständnis, und ich finde es wunderbar ironisierend. (Copyright Svarta Photography)

Hat etwas mit Dekonstruktivismus, Kubismus, Anarchie, Dadaismus, entartete Kunst, abnorm exzentrisch, schräg zu tun, ist aber von dieser Welt und sehr beachtenswürdig.

Kennengelernt habe ich das Werk erstmals im Zusammenhang mit Venetian Snares, ein Typ, der auch gerne klassisches mit Breakcore verbindet. Während dieser das Ganze am Synthie nachbildet nimmt Igorrr dazu originale Klassik – als Sample, oder sie wird eingespielt. Und er hat dabei – trotz aller Härte – einen Sinn für Humor; das liebe ich! Sein Huhn kommt daher auch öfters in den Videos vor, einmal sogar als Hauptdarsteller.

Igorrr – My Chicken’s Symphony: Ein sehr untypisches Beispiel seiner Musik. Sicher eines der kostengünstigsten Musikvideos aller Zeiten und eines der originellsten! Der Nutzer kafrrros (auch mit 3r!) hat vor 3 Jahren auf einem Videoportal dazu folgendes interessantes von sich gegeben: „Although the chicken usually write in a more pastoral romantic style, this particular one has made a composition that deviates from the usual chicken repertoire and dares to explore new, experimental musical paths through strange time signatures and complex sound textures.. Magnificent!“

Neben der Hardcore-Version Igorrr hat er auch eine entspannteres Projekt mit dem Namen Corpo-Mente gegründet. Auch klassisch basiert und wesentlich eingängiger. Vielleicht wird er auch etwas ruhiger auf seine alten Tage. Das hat die Qualität von Radiohead und ist unbedingt hörenswert.

Der Ausschlag für diese Würdigung gab ein eher untypisches Stück mit dem Namen Corpus Tristis. Das basiert auf einem Walzer von Chopin (Grande Valse Brillante, Op. 34, Nr. 2 in a Moll), der wunderschön ist. Wozu braucht man noch Igorrr? Nun: es macht Spaß.

Bei Recherche auf einem bekannten Videoportal stößt man aktuell auf ein offizielles Video zu dem Stück „ieuD“. Harter Stoff. Das habe ich AND empfohlen, der mir bisher immer gerne zu den allerschrägsten und krachigsten Klängen verholfen hat; es hat ihn zu dem Ausspruch verleitet: „Oh Jesus. Was denn das?“

Sehr eindrucksvoll ist das Video zum Auftritt beim Dour Festival 2017. Ansonsten empfehle ich auch die etwas braven aber schönen Videos zum „The Making of Savage Sinusoid“. Zu Corpo-mente sollte man sich unbedingt „Live at Improve Tone Studios, 2015“ ansehen/anhören. Und alles andere auch!

Das ist hohe Kunst! Und wunderbar radikal! Habe noch nicht alles erfasst, aber es hat mir bereits mehrfach feuchte Augen verursacht. Und ich wäre glücklich, wenn ich das, was er in Musik macht, hier mit Worten umsetzen könnte. Und das würde ich mir manchmal gerne   über eine Superanlage mit Riesenboxen auf voller Lautstärken anhören wollen. – gorrrg.

Johannes Pelle

Im Laufe dieses Tagebuchs möchte ich doch gerne die meisten der Personen erwähnt haben, die mich beeindruckt haben oder die mein Leben wesentlich beeinflusst haben. Es sind wenige, daher sollte die Aufgabe lösbar sein.

Zu diesen Menschen gehört jedenfalls auch ein britischer Radiomoderator mit dem Namen John Peel († am 25. Oktober 2004). Laut Wikipedia einer der einflussreichsten Experten für Popmusik. POPMUSIK??? Die hat er natürlich nie gespielt. Es war immer sehr persönliche und sehr außergewöhnliche und gerne schräge Musik.

Bei mir fing es in den frühen achtzigern an, als ich zu Besuch bei meiner Schwester in Hannover (!) zufällig seine Sendung im Radiosender der britischen Besatzungsmacht BFBS hörte und sofort begeistert war. Später in Berlin saß ich Samstags Nachts immer in meiner Erdgeschosswohnung und musste die Radioantenne drehen, verlegen, umstöpseln, hochheben, treten, überkreuzen, austauschen, verlängern, beschwören, um die Sendung der Besatzer auf BFBS Berlin halbwegs vernünftig empfangen zu können.

Das war für mich ganz neue Musik. Herr Peel hat auch einen schönen britischen Sarkasmus, der immer zwischen den Titeln zum tragen kam. Die Musik gefiel mir nicht immer: Die viele afrikanische Musik mochte ich nie, The Fall, seine Lieblingsband auch nicht. Aber zum Beispiel The Clash, The Cure, Joy Division,  Siouxsie and the Banshees, New Order, P J Harvey, Roxy Music, Sex Pistols, The Smiths, X-Mal Deutschland, Cocteau Twins durchaus – heute alles Helden.

Ich habe damals viel aufgenommen, auf Tonband oder Kassette, die Qualität des Materials entsprechend mies – hinzu kam noch der schlechte Empfang mit sporadischem Rausch(en) (analog auf UKW!). Dank des Netzes konnte ich jetzt einige Sendungen in guter Qualität finden und von Zeit zu Zeit mal wieder reinhören. Schön!

Es klingt aber auch wie aus einer anderen Zeit.

Würden Sie  diesem Menschen vertrauen? Ich tue es. Bedingungslos. Bloß: warum liegt da ’ne Platte von Fairport Convention?

Foto: Len Trievnor/Getty Images

Hier noch ein Verweis auf die Intromusik zu seiner Sendung: Link